Expert/innenworkshop im Museum für Kommunikation
Arno Dusini von der Universität Wien fokussierte seine Gedanken zum Thema „Vom Tagebuch zum Weblog“ auf drei Fragen:
- 1. Welche Möglichkeiten eröffnet mir das Genre, um von mir zu sprechen?
- 2. Was bedeutet „Verzettelung“, „Abheftung“, „Verbuchung“ des eigenen Lebens? Was heißt es, dass man das eigene Leben auf eine Internet-Seite stellt, dass man dieses Leben zu „scrollen“ vermag, dass man es aktuell ins „Netz“ stellt?
- 3. Was mache ich praktisch mit meinem Leben, wenn ich mich auf diese verschiedene Schreibszenen einlasse, und wie wirkt diese Einlassung jeweils auf mein Leben zurück?
Weiterhin griff er die unter anderem in seinem Buch gestellte These zur Datierung auf: Wie mache ich Zeit fassbar? Die Antwort liegt im Datum der Einträge. Die Zeit ist als Text materialisiert. „Wenn ich ein Tagebuch in den Händen halte, halte ich Zeit in den Händen“, so Dusini. Seine These: Man liest Tagebücher nicht von vorne nach hinten, sondern man blättert darin herum.
Jan Schmidt (FoNK Bamberg) stellte im Anschluss seine drei Thesen zum Tagebuchblogging vor:
- 1. „Tagebuch-Blogs“ sind weit verbreitet – eine deutliche Mehrheit der Blogger/innen nennt diaristische Motive.
- 2. Die Selbstdarstellung/-reflektion in Weblogs erreicht bzw. bildet „persönliche Öffentlichkeiten“.
- 3. Tagebuch-Blogs werden aus zwei Richtungen diskursiv abgewertet: Aus „klassischen“ Kommunikationsberufen sowie aus bestimmten Bereichen der Blogosphäre selbst.
Nicht nur, dass 80% der Blogger/innen einen dieser drei Gründe für das Bloggen nennen, eine weitere Erkenntnis ist folgende: Die Mehrzahl der „Journalblogger“ sind Frauen und Teenager. Zudem bilden sich Öffentlichkeiten, die allerdings keine messbare Relevanz erlangen, weil sie im „Long Tail“ (quasi dem langen Rattenschwanz) der Blogosphäre liegen. Dies machte Jan Schmidt an einem schnell auf die Tafel gezeichneten Aufmerksamkeits-Graphen zur „A-List“ und dem „Long-Tail“ deutlich. Es war interessant zu beobachten, wie Begrifflichkeiten von einer Disziplin zur anderen schwappten: Die Bezeichnung der „A-List“ und des „Long-Tail“ wurde später in der Diskussion auch von den Literaturwissenschaftlern aus der Runde für die öffentliche Wirkung von Literarischen Tagebüchern und Alltags-Tagebüchern aufgegriffen, da hier ein ähnlicher Abwertungsmechanismus vorliegt, wie bei den Blogs selbst.
Lutz Hagestedt fragte, wie sich die Form im Tagebuch/Weblog unterscheide und was aufgezeichnet und weggelassen werde. Zudem benannte er den Faktor Zeit als einen Zwang, dem man sich freiwillig unterlege. In der Diskussion verwies er auf Rainald Goetz’ Online-Tagebuch „Abfall für alle“. Für Goetz sei es wichtig gewesen, dass eine bestimmte Oralität hergestellt wurde, dies habe ihn viel Zeit und Kraft gekostest. Er glaubte an das Ideal der „Community als Gespräch“, was nicht abgehoben theoretisch gelesen werden sollte. Indem er beispielsweise im gedruckten Buch Tippfehler beibehielt bediente er sich einer Strategie der Authentizität.
Günter Butzers Thema war das „Tagebuch und Weblog als Selbstgespräch“. Zu Anfang betonte er den „Kontrakt einer ständigen Selbstpraxis“ (nach Dusini). Mit Folge einer „Selbstdisziplin, deren Gewaltsamkeit nicht unterschätzt werden sollte“, die zum Zwang werden könne. Der große Vorteil sei, dass man schreiben könne, wie man wolle. Es sei somit eine Schule des Schreibens und erzeuge zugleich Formung durch das Schreiben. Der Schreiber wäre immer auch sein erster Leser, dies bedeute, dass man beim Schreiben läse, wie man sich selbst beschreibt, was zur Folge habe, dass man sich in der Situation akut selbst bearbeite. Eine wichtige Argumentationslinie Butzers war diese: Nur scheinbar ist der Schreiber mit Papier, Kamera, Bildschirm allein, in Wirklichkeit sei immer eine Beobachtungsinstanz impliziert. Diese komme in der Tradition der älteren Selbstgespräche von Außen (bei Augustinus war es Gott) und würde heute scheinbar fehlen, sei aber letztlich durch die nicht adressierten Leser im Internet ebenso gegeben. Seine These: „So wie jeder Bühnenmonolog die Anwesenheit des Theaterpublikums zugleich voraussetzt und ignoriert, so unterliegt noch das intimste Selbstgespräch und das privateste Tagebuch einer strukturellen Beobachtung, die gerade das Eigenste zum Objekt ihrer Wissensbegierde macht.“
Günter Oesterles Überlegungen gingen von zwei Punkten aus:
- 1. Das Tagebuch als Ergebnis einer Schnittstelle von ökonomischen, religiösen und medizinischen Diskursen (Logbücher, Kaufmannstagebücher, Pfarrertagebücher, Therapietagebücher)
- 2. Das Tagebuch als Ergebnis einer Schnittstelle von Poesie und Prosa
Das Schreiben im Tagebuch, so Oesterle, erfordere Situativität: Eine Aufmerksamkeit für die Alltäglichkeiten, zudem das Nachspüren eines Ersteindrucks (nach Rousseau). Es kann Ort sein für ein nicht zugelassenes, ein ungelebtes oder auch ein tabuisiertes Selbst. Es bietet somit auch Raum für erschriebene ungelebte Selbstmöglichkeiten.Andrea Diener („die Qutotenbloggerin“) öffnete den Blick für die Praxis des Bloggens. Sie begann mit einer kurzgehaltenen Entwicklungsgeschichte des Bloggens und zeichnete ihren persönlicher Weg hin zum Blogschreiben auf.
Bloggen habe eine interaktive Ebene, die an die Kaffeehaus-/Salonkultur erinnere. Es gehe darum, dem Alltag etwas Interessantes abzuringen, man gehe schon mit scannenden Blick in die Welt. Begonnen habe sie im „Gästestrang“ des Internetprojekts Am Pool, später startete sie als Experiment ein Online-Tagebuch für ein Jahr, mit der Prämisse, täglich einen Text zu schreiben. Andrea Diener: „Das Internet war damals noch sehr klein. Man kannte sich.“ Mittlerweile schreibe sie seit über fünf Jahren auf der Internet-Plattform Antville ihre „Reisenotizen aus der Realität“. Auch wenn vom Außen der Vorwurf käme „Blogs seien die Klowände des Internets“, in ihrem Blog könne sie schreiben, wie sie wolle, müsse sich nichts erzählen lassen: „Mein Blog ist mein Wohnzimmer“.
Klaus Schönberger widmete sich dem (weiblichen) Kulturmuster Tagebuchschreiben. Bei Weblogs erstaunlich seien, die Überzahl der weiblichen Nutzer. Er sieht einen Grund für die weibliche Dominanz darin, dass „sowohl inhaltliche als formale Elemente des Kulturmusters Tagebuch“ aufgenommen und „unter veränderten medientechnischen Bedingungen“ weiterentwickelt würden. Verschiedene Studien bestätigen, dass Frauen auch früher schon stärker als Männer (Alltags-)Tagebücher schrieben, dass übertrage sich nun auch auf das Internet, obwohl dieses als klassisch männliche Sphäre gelte. Wie auch schon Jan Schmidt vorher, bestätigte er, dass derzeit vielmehr die Debatte um Weblogs als journalistisches Medium wahrgenommen wird, obwohl dies eher ein Randphänomen ist und die Mehrzahl der Bloger/innen zu den Tagebuch-Blogger/innen gehörten. Sehr spannend war Klaus Schönbergers Exkurs zur weiblichen Lesewut im 19. Jahrhundert: „Bei der Kritik der ‚Lesewut‘ wurde bekanntermaßen Eskapismus, Realitätsverlust und gesundheitliche Schäden durch übermäßiges ‚falsches’ Lesen befürchtet. (…) Bei den Weblogs werden nun Eigentätigkeit und das produktive Moment als kritisch und banal beurteilt – aber aus demselben Grund: weil sie keine Grenzen mehr kennen.“ Trivialität und Banalität sind die Schmähungen, doch letztlich zeige sich darin die Verteidigung kulturellen Kapitals, ein symbolischer Klassenkampf.
Ebenfalls nachzulesen hier und hier
Erstveröffentlichung auf http://tagwerke.twoday.net
Kommentare
[…] mit seinem Blog irgendwie im Netz? Ein Online-Leben in der Art und Weise, wie Andrea Diener bei unserem Expert/innenworkshop meinte, „ihr Blog sei ihr Wohnzimmer“? Doch spätestens bei einer solchen Veranstaltung […]