Prof. Dr. Albert Spitznagel im Gespräch
Ein Ansatz dem Tagebuch auf die Spur zu kommen sind so genannte Expertengespräche. Manchmal allein oder auch zu mehreren unterhält sich das Projektteam mit Experten aus verschiedenen Disziplinen. Um das Tagebuch aus der Perspektive der Psychologen zu ergründen haben wir Prof. Dr. Albert Spitznagel von der Justus-Liebig-Universität Gießen zu uns ins Museum eingeladen. Prof. Dr. Albert Spitznagel ist ein Typ Wissenschaftler, den es heute kaum noch gibt. Es scheint als habe er alle Zeit der Welt und in dieser badet er, breitet sich aus, langsam sprechend, manchmal leicht stockend. Man selbst wird in dieses Wissensbad eingesogen, legt seine eigene Hektik ab und fängt an, das Zuhören zu genießen.
Was interessiert die Psychologie am Tagebuch?
„Individuen sind Biografen ihrer selbst“, so Spitznagel, sie seien quasi Selbsthistoriker. Es erfolgt eine Aufspaltung in ein betrachtendes und ein betrachtetes Ich. Das Interesse des Selbsthistorikers fängt meist im Alter an und das zuvor geführte Tagebuch wird dann oft nicht mehr als ein Kapitel einer Autobiografie. Das Tagebuch hat aber eine andere Wertigkeit, es steht nicht Ende, sondern immer am Beginn.
Vom Entwicklungsroman zum Tagebuch
Mit Karl Philipp Moritz‘ Roman Anton Reiser. Ein psychologischer Roman begann die Erkenntnis, dass erwachsenes Verhalten auf die Kindheit gründet. Eltern fingen nun an, das Verhalten ihrer Kinder zu beobachten und aufzuschreiben. In den 1920er Jahren kamen neue Fragen dazu: Wer schreibt Tagebuch und wie lange wird es geschrieben? Erkenntnis: Mädchen schrieben deutlich mehr. Im 19. Jahrhundert bekamen Mädchen Tagebücher geschenkt. Es begann eine regelrechte Tagebuchindustrie mit vorgefertigten Büchern.
Keine definitiven Typologisierungen
Es lassen sich sonst wenig feste Aussagen über das Tagebuchschreiben machen: „Das Tagebuch ist ein Chamäleon. Wann immer man denkt, man hat eine Regel erkannt, läuft die einem schon wieder weg.“ Eine Studie hatte beispielsweise zum Ergebnis, dass Tagebuchschreiber früher sterben würden. Was ganz im Gegensatz zur These des therapeutischen Tagebuchs steht (“ Diariy writing is promoting health!“). Die höhere Suizidgefahr gründete allerdings auf einer unseriösen Auswahl. Die einzige Typologisierung die Bestand habe, wäre die von James Pennebaker. Er unterteilt Tagebuchschreiber in zwei Gruppen: In solche, die nur in Krisen schreiben aber im Alltag nicht, während die andere Gruppe den Alltag dokumentiere und Krisen auslasse.
Heilende Tagebücher?
Die Frage, ob Tagebücher eine heilende Funktion hätten, beantwortet Spitznagel damit, dass manche Patienten einen so großen Leidensdruck haben, dass sie Dinge nicht aussprechen, aber durchaus aufschreiben könnten. Nicht immer heilt das Tagebuch, es kann auch zum Ort des Leidens werden. Stefan Zweigs Selbstmord lässt sich in Einträgen über den Zustand des Tagebuchs vorausahnen: Dort schreibt er, dass es seinem Tagebuch schlecht gehe, immer schlechter, sein Tagebuch werde nicht mehr lange leben.
Erstveröffentlichung auf http://tagwerke.twoday.net

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