Der erste Vorsatz, den ich fasste, war täglich schwimmen zu gehen. Doch wohin? Da Osterferien sind, ist es in allen Bädern voll an Kindern und Jugendlichen. Kreischende und spritzende Kinder sowie hormongeflutete Jugendliche in Massen stehen in diametralen Widerspruch zu meiner Vorstellung von Erholung. Nichts gegen Kinder oder Jugendliche im generellen, doch da wo ich schwimme, verlangt es mich nach Frieden.
Da fällt mein Blick auf die Seite des Riedbads Bergen-Enkheim. Riedbad heißt es erst seit kurzem, vorher war es ein schnödes Hallenbad. Doch gegen das Panoramabad oder Rebstockbad muss ein wohlklingenderer Name ins Spiel gebracht werden. Riedbad also und dort ist von 9 bis 11 Uhr Frauenschwimmen. Warmbadetag ist es dazu. Selbst wenn jetzt nur Mütter mit ihren Töchtern kämen, die Hälfte der potentiellen Lärmer fällt schon mal weg.

Auf der Suche nach dem Schwimmbad wird mir bewußt, dass ich diesen etwas abseits liegenden Stadtteil Frankfurts nur von Durchfahrten kenne und die Hauptstrasse ist, wie ich bald merke, eine der eher unattraktriven Stellen Bergen-Enkheims. Die Altstadt am Berg steht hingegen voll mit Fachwerkhäusern. Die Sonne scheint und in den Vorgärten blüht es. Man kommt sich weit weg von Frankfurt vor. Der Ausblick runter auf die Stadt ist klar und wunderschön. Dies ist so ein Moment, in dem ich fassungslos erkenne, dass dieses Frankfurt, das ich doch so gut zu kennen glaube, immer wieder anders ist. Dass die Wirkung des Stadtbildes sich innerhalb von einem Kilometer komplett wandeln mag. 14 % Gefälle bremse ich am Berg hinunter.

Das Schwimmbad liegt unten im Flachen. Die Halle ist von Außen ein viereckiger Bau ohne größeren Reiz. Innen drin finde ich auf den ersten Blick die Kasse nicht, sehe nur ein große Kaffeebar mit langem Tresen. Im Café sitzen zwei Rentner und beobachten mich. Das Baden liegt schon hinter ihnen, jetzt trinken sie den verdienten Morgenkaffee. Mein zielloser Blick lässt den Mann sagen: „Ei Gabi! Da is Kundschaft.“ Jetzt wird mir klar, dass der Kaffeetresen zugleich der Kassentresen ist. Von hinten eilt behende eine Kassen-Kaffee-Kraft und verkauft mir die Eintrittskarte. Als ich dann nicht sofort den Schlitz für die Karte finde, damit die Drehtür aufschwingt, schmettert die Rentnerin durch den Raum: „Durch die annere Seite müssense nei.“ Worauf ich auf der Rückseite tatsächlich den Schlitz finde und ihnen dankend zunicke und dann aber schnell davoneile, bevor ich noch irgendeinen anderen guten Rat zugerufen bekomme.

Die erste nette Überraschung sind die Umkleidekabinen. Klein sind sie, aber praktisch. Ein Sitz in der Kabinenecke, genug Haken und das Beste – in jeder Kabine hängt ein Fußmatte, so dass man nach dem Baden nicht im Tropfwasser rumstehen muss. Der familiäre Eindruck, den ich schon im Kassenbereich erhielt, setzt sich auch in der Dusche fort. In die Duschkabine neben mir tritt eine durchtrainierte Schwimmerin mittleren Alters. Sie zieht die Gummimütze vom Kopf und richtet ihre Worte an mich während sie die Dusche aufdreht: „Heute ist Frauenschwimmen. Eben hat der Bademeister noch den letzten Mann hinausgebeten.“ Erst bin ich mir nicht sicher, ob sie mit mir redet, doch wir sind allein. So erwiedere ich, dass das nicht für den ganzen Tag gelte, sondern nur für zwei Stunden. Sie nickt zufrieden und ich komme mir vor wie in einem C64-Adventure, in dem man immer bestimmte Dinge sagen oder fragen muss, um weiter zu kommen. Ich nehme mein Handtuch, sage kurz tschüß und trete in die Schwimmhalle.

Vor mir liegt das große Schwimmbecken, hinten gibt es ein weiteres quadratisches, wahrscheinlich das Kinderbecken. Kinder sind nur zwei da. Beides Jungs. Soweit zur Theorie, dass beim Frauenschwimmen nur Frauen seien, für Kinder gilt diese Seperation noch nicht. Allerdings hält sich das Aufkommen in Grenzen. Umso voller ist das Bahnen-Becken. Zwei-Drittel sind abgeteilt. Dort schwimmen ältere Damen ihre Bahnen. Mir erscheint es sinnlos, hier nach Lücken zu spähen, schließlich bin ich nicht zum Slalom-Schwimmen hergekommen. Also richte ich mein Interesse auf das letzte Drittel des Beckens. Hier schwimmen fünf Damen im Kreis. Am Beckenrand steht eine junge Sportlehrerin. Aus einer Lautsprecherbox dudeln Disko-Klassiker der späten 1970er Jahren. Nicht die, die man heute fast wieder hören kann, sondern die richtigen Party-Klassiker auf ZDF-Hitparaden-Niveau, wie sie einst auch auf den Faschingpartys meiner Eltern auf der Anlage im Hobbykeller gespielt wurden. An die blonde Sportlehrerin wende ich mich und frage, ob dies eine offene Stunde sei. Sie bejaht das, schickt mich zu einem Haufen mit Schwimmhilfen, die ich mir eng umlegen soll („so, dass sie meinen, sie kriegen kaum noch Luft“) und mit dem Gurt und lila Styropor im Rücken steige ich zu den Polonäse-schwimmenden Damen ins Wasser. Erst jetzt wird mir bewußt, dass das kein Wassergymnastik-Kurs ist, denn ich habe keinen Boden unter den Füßen. Ich trete ins Nichts, doch das Styropor trägt mich und durch das Wassertreten nähere ich mich langsam den Damen.

Blondie, wie ich die Sportlehrerin im Geiste getauft habe und von der ich mehr und mehr überzeugt bin, dass sie eher eine Sportstudentin ist, macht ihre Sache gut und engagiert. Die Arbeit scheint ihr eine Mission zu sein. Am Beckenrand turnt sie vor, was wir im Nass wiederholen sollen. Am Ende wird sie bestimmt mehr Kalorien verbraucht haben als wir, aber die Anstrengung sieht man ihr nicht an. Wahrscheinlich schwitzt sie nicht mal, hat vielleicht noch nie zuvor geschwitzt. Ich stelle mir vor, sie riecht stets nach Zitrus. Aseptisch. Wir unten im Becken schwitzen auch nicht und wenn doch, so sorgt das Nass des Beckens für ein Gefühl der Reinheit und Frische. Im Geleit der Damen fühle ich mich überlegen sportlich. Ich kann meine Gliedmaßen wohl kontrollieren und bekomme sogar beim „Radfahren“ gut Tempo („und jetzt wieder Radfahren die Damen, schön die Knie hoch“), so dass ich aufpassen muss, der Vorderfrau nicht zu nahe zu kommen. Im Hintergrund tönt es derweil: „Zabadak – Shai Shai Skagalak“ und Blondie will, dass wir immer schön im Rhythmus treten. Das Gute ist, dass in diesem Seniorinnen-Kosmos mir gar nichts mehr unangenehm wird.

Nach dem Aqua-Jogging wage ich mich ins Bahnen-Becken. Und siehe da: Der Slalom klappt besser als gedacht. Die Damen sind nämlich mehr am kommunikativen als am sportlichen Schwimmen interessiert. In Zweier- oder Dreier-Grüppchen lassen sie sich von der einen Seite des Beckens zur anderen treiben. Dabei achten sie, dass der Kopf nicht zu nahe ans Wasser gerät. Der Grund liegt darin, dass
1. die Fön-Frisuren nicht zerstört werden dürfen,
2. Make-up und Lippenstift nicht verlaufen sollen,
3. Brillen oder Ohrringe, manchmal beides, vor Kontakt mit dem gechlorten Wasser bewahrt werden müssen.
Wer jemals um 8.00 Uhr das Schwimmbecken mit sportlich verbissenen Rentnern teilte, die stur ihre Bahnen schwimmen und keinen Zentimeter weichen, der weiss den Unterschied zu den fidelen, rausgeputzten Damen beim Frauenschwimmen zu schätzen.

Die letzten 15 Minuten lege ich mich ins warme Wasser im Kinderbecken. Ich mache „Toter Mann“, genieße den Wasserauftrieb. Um mich versinkt die Welt in ein Gluckern und Rauschen. Eine Reduktion auf das Ich. Das Spüren des Außens, der Hülle und Friede im Inneren. Irgendwann lege ich meine Arme auf den Beckenrand und schaue durch die Glasfenster nach draußen. Das Sonnenlicht zaubert lichte Schlieren auf meine Unterarme im Wasser. Das Wasser fühlt sich weich an, die Fliesen des Beckenrandes fühlen sich weich an, alles ist weich und fließend. Mein Kopf wird leer und ich fühle mich zufrieden. Dann schüttele ich mich, lasse wieder die Kraft zurück in den Körper kommen und mache mich auf in den Tag.

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